Kino ohne Talent
roman

Das Grauen der Tiefe: Kapitel XL

09.09.2010 - 12:42 von Redaktion

Easy rutschte zuerst aus dem Lüftungsschacht, dessen Öffnung nach unten zeigte. Sie spürte die Wärme und sog die frische Luft der Oberwelt gierig ein. Hinter ihr rumpelte es, und Kette fiel ziemlich unelegant aus dem Schacht. Er schrie und riss sich dabei die Hände vor die Augen.
"Kette was ist los? Geht es dir nicht gut?"
"Ahh, zu hell! Ick seh nix mehr. Vadammt!"
Easy trug unter der Uniform immer noch ihr mittlerweile fast komplett zerrissenes Kleid. Sie griff unter die Uniform, riss einen langen Streifen davon ab und wickelte ihn mehrfach um Kettes Kopf und verband ihm so die Augen.
"Super, und nu? Wie soll ick mir jezze orientieren, zielen, schießen, hä? Ick seh nix mehr."
"Hier oben musst du nicht schießen. Wir sind hier in Sicherheit. Hier sorgt die Städtische Schutztruppe für Ruhe und Sicherheit."
"Du meenst die bewaffnete Jauklertruppe, die zuerst meen Zuhause in Schutt und Asche jelecht hat und dir dann vajewaltijen wollte? Den soll ick vatraun? Dit gloobste doch wohl selba nich oder?", meckerte Kette.
"Vertraust du mir?"
"Hab ick ne Wahl?"
"Ja, du könntest auch alleine blind los laufen, im wahrsten Sinne des Wortes."
"Ha ha, du hast wohl vorhin bei Thul kurz inna Witzekiste jeschlafen, oda wat?"
"Nun komm' schon, ich führe dich."
Sie griff sie nach Kettes Hand und ging los.
"Jawoll, meene Führerin."
Easy verdreht bei dem Satz die Augen: "Meine Mutter hatte recht."
"Womit?"
"Meine Mutter hat mir immer gesagt: 'Jungen werden sieben Jahre alt und dann wachsen sie weiter.' Und wenn ich dich so betrachte, dann kann ich ihr da nur Recht geben."
Sie gingen los in Richtung der Neu-Berliner Arkaden, einer vor dem Hauptquartier der Städtischen Schutztruppe liegenden Parkanlage, an deren Seite sich ebenfalls die Stadtkanzlei, der Sitz des Bürgerpräsidenten, und das Weiße Rathaus befanden.
"Du meinst dit mit biologischem und jeistigem Alter?"
"Wie bitte? Was meinst du?"
"Naja ick meene dit sich bei einijen Menschen die körpaliche und jeistige Reife nich unbedingt gleichmäßig vollzieht."
"Genau."
"Also körperlich bin ick uff'm Stand eines 18-jährigen, voll jeschlechtsreif, inna Blüte von meem Leben und jeder Zeit bereit, beedet unta Beweis zu stellen", sagte er, mit einem süffisanten Grinsen in die Richtung gewandt, in der er Easy vermutete.
"Hätte ich dir nicht die Augen verbunden, dann würde ich dir, mal wieder, eine scheuern."
"Uhh ja, schlag mir, beiß mir und jib mir Tiernamen!"
"Wenn du nicht gleich leise bist, dann lass ich dich hier einfach stehen. Mitten vor der Zentrale der Städtischen Schutztruppe."
Kette war sofort ruhig und die beiden gingen Hand in Hand durch den Park. Nach einiger Zeit hatte Kette angefangen, sämtlichen dummen Sprüche gegenüber Easy zu unterlassen. Das hatte nichts mit Höflichkeit zu tun. Easy hatte einfach damit begonnen, ihn für jeden dummen Spruch gegen Laternen, Papierkörbe, Parkbänke und ähnliche, für Kette unsichtbare Dinge zu führen. Diese Form der Bestrafung hatte allerdings den Nachteil, dass sie langsamer voran kamen, als Easy erwartete hatte.
Am späten Nachmittag sprach sie eine junge Frau in Easys Alter an.
"Hey, kann ich euch helfen? Was ist denn mit deinem Freund los?"
"Dem geht's bestens", sagte Easy.
"Von wejen, alte Hexe." fauchte Kette.
"Die nächste Laterne ist deine, du alte Meckerziege", gab sie leise zurück.
"Warum hat er einen Verband um die Augen, so kann er doch gar nichts sehen", fragte die Frau naiv.
"Herzlichen Glückwunsch, Sie ham soeben den Tajespreis für unglaubliche Scharfsichtigkeit erhalten", sagte Kette zu ihr.
"Oh toll, was habe ich denn gewonnen?", frage die Frau.
"Ne Waschmaschine oder nen LKW, kannste dir aussuchen."
"Hä? Was?"
"Achte nicht auf ihn. Er wurde geblendet und ist schlecht gelaunt, weil er erst mal gar nichts sieht."
"Ach so, deshalb der Verband."
"Genau", schloss Easy das Thema ab.
"Ich glaube, ich weiß wie ich euch helfen kann. Kommt doch erst mal mit zu mir, dann kann ich mich vielleicht auch besser um deinen Freund kümmern."
"Dem ist nicht mehr zu helfen", murmelte Easy.
"Das hab ich gehört", knurrte Kette.
"Ach übrigens, ich heiße Lili, und ihr?"
"Ich heiße Easy … ähh Isabell, Isabell Stürmer, und das hier ist August."
Lili ging los und beide folgten ihr.
"Wie kommst du uff den Jedanken, ick würde Aujust heißen?", flüsterte Kette zu Easy
"Weil du dich immer wieder wie ein dummer August aufführst."
"Der Punkt für Wortspiele jeht diesmal an dich."
"Vielen Dank, ich werde ihn mir einrahmen und zu Hause in die Wand hängen."
Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten sie Lilis Wohnung. Es war eine gemütliche Zweiraum-Wohnung im ersten Stock eines Mietshauses in Treptow. Die Wände waren rot tapeziert und die Scheuerleisten und Türrahmen aus Echtholz weiß gestrichen. Die Dielen waren schwarz und zum Teil von Perserläufern bedeckt.
"Macht es euch bequem. Ich zieh mir nur schnell etwas gemütlicheres an", sagte ihre Gastgeberin.
"Warum? Trägt se denn wat Unbequemet? Dit iss doch total doof", fragte Kette leise Easy.
"Weil es chiquer aussieht."
"Hä?"
"Na, weil sie es schöner findet als das bequeme Teil."
"Dit kann ick jerade nich janz nachvollziehn. Se sieht lieba hübsch aus, als dasse sich wohl fühlt? Wie doof iss dit denn?"
"Ich habe keine Ahnung."
Kurz darauf war Lili zurück im Wohnzimmer, mit etwas an, das Easy höchstens zum Schlafen angezogen hätte und selbst dann nur bei abgeschlossener Zimmertür und zugezogenen Vorhängen.
'Nur gut, dass Kette gerade blind ist, sie könnte sich vor dummen Sprüchen nicht mehr retten.', dachte Easy.
"So, na dann gucken wir doch mal deine Guckerchen an", sagte Lili und nestelte an Kettes Augenbinde herum.
Als sie fast alles abgewickelt hatte, schrie Kette erneut auf und stieß sie so sehr mit der flachen Hand weg, dass sie hinten über fiel. Dabei hatte er wieder aufgeschrien und sich mit der anderen Hand die Augen zugehalten. Lili rappelte sich ziemlich schlecht gelaunt wieder auf und zog einen Flunsch.
"Mein Gott, was bist du denn für eine Mimose? Rennst herum, als wärst du der Terminator persönlich, aber sobald man dich mal ein bisschen anfasst, heulst du herum und schlägst um dich wie ein kleines Kind, das sich nicht waschen lassen will."
'Wenn du wüsstest, wie nah du damit an der Wahrheit bist.', dachte sich Easy im Stillen.
"Kein Vergleich zu meinem Edgar,", plapperte Lili weiter, "das ist ein ganzer Kerl sag ich dir."
"Sagtest du Edgar? Leutnant Edgar Müller?"
"Nein, Kommissar der Kriminalpolizei, Edgar Müller."
Easy war wie versteinert. In diesem Moment öffnete jemand die Wohnungstür.
"Hasiiiiiiiii!", kreischte Lili und rannte auf den Mann zu, der in der Tür stand und wie versteinert Easy anstarrte.
Kette saß vollkommen blind und ahnungslos daneben und machte soeben seine Augenbinde wieder fest. Edgar starrte immer noch auf die Frau in Lilis Wohnzimmer. Das konnte nicht wahr sein.
'Sie müsste tot sein.', dachte er sich.
Langsam glitt seine Hand in die Tasche seines Mantels und holte sein Funktelefon heraus.
Er wählte eine Nummer: "Hier Kommissar Müller. Ich benötige sofort ein Sturm- und Festnahmekommando im Treptower Park 48, erster Stock rechts. Sofort!"
"Halte dich von diesen Terroristen fern, Lili, die sind gemeingefährlich. Sie haben drei Abgeordnete sowie zwei Mordversuche am Großkommandanten auf dem Gewissen."
Er zog seine Pistole und richtet sie auf Kette und Easy.
"Bist du irre Edgar? Warum sollte ich so etwas tun? Wie sollte ich so etwas tun? Warum sollte ich meinen eigenen Vater töten?"
"Weiß ich doch nicht, was in deinem kranken Terroristengehirn vorgeht. Vielleicht hat dich dieser Katakombenkrüppel manipuliert."
Getrappel im Flur kündigte die Ankunft des Sturm- und Festnahmekommandos an. Sie betraten die Wohnung und postierten sich um Kette und Easy herum. Kette, der nicht sah, was um ihn herum passierte, drehte verwirrt wie bei einem Tennisspiel den Kopf hin und her. Lili setzte sich, um nicht vor Aufregung ohnmächtig zu werden, gegenüber dem immer noch blinden Kette in einen Sessel. Während des ganzen Trubels um Edgars Ankunft hatte es draußen zu dämmern begonnen.
"Edgar, es ist mir egal, ob du eine andere Freundin hast oder nicht, aber müssen wir so auseinander gehen? Das ist der erste Sonnenuntergang, den ich seit Tagen sehe. Ich hab es immer genossen, mir mit dir die Sonnenuntergänge anzugucken. Ich möchte nicht, dass wir bei Sonnenuntergang auseinander gehen."
Jetzt mischte Kette sich ein: "Sach mal, wat reitest du eigentlich so uff dem beschissenen Sonnenunterjang rum, der iss doch soweit icke dit jelesen hab, jeden beschissenen Tach. Aussadem gloobe ick, dit wir jerade weitaus jrößere Probleme haben als nen versauten Sonnenunterjang."
Er machte eine kurze Pause.
"Oh Mann, bei mir fällt der Jroschen heute, aber ooch wieder pfennigweise. Dann iss ja jezze dunkel."
Er riss die Augenbinde ab und sah zuerst Lili in einem Hauch von Nichts vor sich.
"Nett", war sein Kommentar
Dann sah er Edgar und die anderen Beamten: "Oh, Scheiße!"
Danach zog er blitzschnell hinten aus dem Kragen seiner Lederkutte ein Bajonett, schlitze Edgar den Oberschenkel auf, schlug ihm mit der flachen Seite die Pistole aus der Hand und schickte ihn mit einem linken Haken ins Land der Träume. Die anderen Beamten waren zwar nicht untätig, jedoch nicht sonderlich zielsicher. Kette warf sich auf den Boden und versuchte, sich hinter dem umgekippten Glas-Couchtisch in Deckung zu bringen.
"Hmm, doofe Idee", sagte er zu sich.
Er richtet sich auf, und schickte mit Edgars auf dem Boden gefundener Pistole den Beamten, der auf ihn zielte, über den Jordan. Der Zweite traf ihn währenddessen am Arm. Diesen nagelt er mit einem Wurf seines Messers an den Türrahmen, vor dem er stand. Der dritte hatte sich Easy geschnappt; er hielt ihr eine Waffe an die Schläfe.
"Keine Bewegung, oder deine Schlampe stirbt", sagte dieser.
Kette richtete die Pistole auf ihn.
"Weeßte wat? Meene Idee, sich hinta nem Glastisch zu vasteckn, war schon doof. Dit jeb ick zu. Aber dit is nich jerade sehr viel intellijenta, sich bei deena Größe von geschätzten zwee Metan hinta eena 1,70 Meter großen Frau zu vasteckn."
Kette schoß ihm in den Kopf.
"Kette, hinter dir …!" rief Easy, doch zu spät.
Eine schwere Vase zersplitterte auf Kettes Hinterkopf. Lili hatte ihn niedergeschlagen. Vom Treppenhaus kamen weitere Beamte, stürzten sich zu fünft auf den bewusstlosen Kette und die anderen gingen auf Easy los.