Kino ohne Talent
roman

Das Grauen der Tiefe: Kapitel I

09.09.2010 - 12:42 von Redaktion

Vor mehr als einem halben Jahrhundert sah sich die Berliner Regierung nicht mehr in der Lage, dem wachsenden Heer der Geringverdiener, Arbeitslosen und Armen Herr zu werden. Straßenschlachten bei Demonstrationen gegen Hartz XV gehörten genauso zur Tagesordnung wie die Straßenschlachten gegen Sparpakete aller Art. Die Polizei hatte sich darauf mit der Zeit eingerichtet und war entsprechend ausgestattet. Der Mehrzweckeinsatzstock war der Maschinenpistole gewichen und die Handschellen dem zusammengerollten Leichensack bzw. Personenverwahrungsbeutel, wie er jetzt offiziell hieß.
Als letzte Möglichkeit sah sich die Regierung genötigt, einen riesigen Betonsarkophag um und über der Berliner Innenstadt und den östlichen Bezirken zu errichten. Mauer drum, Deckel drauf, fertig. Die Spree wurde kurzerhand um den Sarkophag herumgeleitet. Oben auf dem Sarkophag wurde Berlin zum Teil nachgebaut, und was am alten Berlin zu hässlich war, wurde ausgespart und an dessen Stelle etwas Schönes, Neues, Prestigeträchtigeres hingesetzt. Wer genug zur Wirtschaft beitrug, durfte nach oben auf den Sarkophag in das nun umbenannte Neu-Berlin ziehen. Die Bezeichnung "Obere Zehntausend" bekam dadurch eine völlig neue Bedeutung …

Kette wachte auf. Es war dunkel. Es war in Altberlin eigentlich immer dunkel. Aber diese Dunkelheit war anders. Er hatte erwartet, etwas zu hören, irgendwas, ein Schnaufen oder Ähnliches. Er versuchte, sich aufrichten und stieß sich prompt den Kopf an einer Tischplatte. Ach ja, er war ja im Chéz Guevara. Sie hatten dort seinen 18. Geburtstag feiern wollen und er hatte mal wieder erfolglos - wie er in diesem Augenblick feststellte - versucht, Schlonz im Kampftrinken zu schlagen. Seine letzte Erinnerung war, wie sie sich zum x-ten Mal zuprosteten. Er krabbelte unbeholfen unter dem Tisch vor. Alles war dunkel, er suchte nach dem Lichtschalter und stieß sich das Schienbein.
"Fuck, dieset verfluchte scheiß-drecks-Kackstuhl-Mist-Sputtelscheisse-Drecksgekrösel!", fluchte er.
Als er versuchte, das Licht einzuschalten, bekam er erst mal einen saftigen Stromschlag: "Shit, dit wa die Steckdose!"
Eins weiter rechts war der gesuchte Schalter, nichts geschah: "Fuck, die Sicherung is schon wieda durch."
Kette tastet sich durch die Kneipe zum Sicherungskasten, nahm die Nottaschenlampe und wechselte die Sicherung. Das hätte er besser lassen sollen.