Das Grauen der Tiefe: Kapitel XXI
09.09.2010 - 12:42 von RedaktionNachdem die Oberschicht und die Sicherheitsorgane sich vor einem halben Jahrhundert an die Oberfläche zurückgezogen hatten, zeigte sich das wahre Gesicht der Krone der Schöpfung: Die Stärkeren fraßen die Schwächeren. Einige meinten am Anfang noch, dass man jetzt, wo die Staatsmacht nicht mehr da sei, endlich in Frieden und Ruhe eine neue, bessere Gesellschaft ohne Streit und Gewalt aufbauen könne. Andere begannen, sobald die Polizei abwesend war, intensiv zu plündern und riesige Waffenlager anzulegen, um sich auf die kommenden Unruhen vorzubereiten. Keine drei Monate später herrschte in Altberlin der Kommunismus. Nicht nach Marx, Engels, Lenin oder wie sie sonst noch alle hießen, es war eine neue Form des Kommunismus, Kommune gegen Kommune, der totale Krieg.
Was die Nazis in sechs Jahren mittels einer ganzen Armee und einem Weltkrieg nicht geschafft hatten, hatte die Berliner Regierung in einem Jahr und mit nur zweihundert Baufirmen geschafft. Einzelkämpfer hatten kaum eine Chance, es sei denn, sie waren verdammte Spezialisten im Verstecken oder im Guerillakampf. Die größeren Gruppen hatten sich in den leerstehenden Gebäuden verschanzt und diese mit der Zeit zu wahren Festungen ausgebaut, in denen sie hofften, größere Angriffe anderer Gruppen aussitzen zu können. Mit dem Auftauchen der Schwarzen Wölfe und der R.S.K. hatten dann auch die größten Pazifisten mit dem Töten angefangen.
Kette starrte Thul, der mit einem mittelalterlichen anmutenden Metallhandschuh das Mädchen niedergeschlagen hatte, verwundert an, "Woher … ähh, nee. Warum … ist ooch klar. Wieso … ach ist doch ooch egal."
"Aus meena Werkstatt. Weil ick so wat kann und weil ick so wat imma schon hab'n wollte", antwortete Thul.
"War ja irjendwie klar."
"Ick nenn'se ooch die Panzafaust."
Sie standen neben dem Mädchen, das Thul so unsanft ruhig gestellt hatte.
"Und nu? Wat stell'n wa mit ihr an?"
"Wir könn se ja hier schlecht liejen lass'n."
"Theoretisch schon."
"Ja aba kannste dit mit deim Jewissen vaeinbaren?"
"Schwerlich, also los, wir wechseln uns beim Trajen ab."
Kette legt sich das Mädchen über die Schulter, und sie gingen los. Als sie bei Thuls Werkstatt ankamen, sahen sie die verstreuten Überreste eines Sturmtrupps der R.S.K., der zwischen und in den Krater der detonierten Tretminen lag.
"Werd'n se dit denn nie lern'? Wir legen Madame erst mal in die Werkstatt und ick jeh dann erst mal meinen 'Vorjarten' wieder herrichten", seufzte Thul, der gerade das Mädchen trug.
Sie legten Isabell auf eine der Werkbänke, Thul schnappte sich eine Schaufel und ein paar Minen und ging raus. Kette suchte eine Decke und einen halbvollen Müllsack, die weichsten Gegenstände, die er finden konnte, und deckte das Mädchen zu. Danach ging zur Gatling-Gun um Thul, der jetzt Minen vergrub, Feuerschutz zu geben.
Als sie fertig waren, setzten sie sich in die Werkstatt.
"Wat soll'n wir mit ihr anstellen?"
"Keene Ahnung, vielleicht könn' ihr de Leute aus da Eisfabrik oda Köpi helfen."
Sie betrachteten das schlafende Mädchen.
"Lass una erst ma' abwart'n, ob se übahaupt noch uffwacht. Du hast ja bekanntlicherweise bei fremden Menschen dit Feinjefühl vonna Planierraupe."
"Hey hey hey, sie atmet noch."
"Ja, noch …"
"Lass uns ihrm Beispiel foljen", sagte Kette und gähnte.
"Soll ick dir ooch K.O. schlajen?", fragte Thul grinsend.
"Neen ick meente, dit wir penn sollt'n."
"Tu dit, ick halte die erste Wache."