Das Grauen der Tiefe: Kapitel XLI
09.09.2010 - 12:42 von RedaktionAls Easy erwachte, taten ihr Arme und Beine weh. Sie sah sich um und erkannte, dass sie sich in einer der Zellen der Städtischen Schutztruppe befand. Ihr Vater hatte sie ihr einmal gezeigt, als sie noch ein Kind war. In der Brust und den Armen hatte sie stechende Schmerzen, und sie entdeckte mehrere Einstiche. Als sie sich langsam aufrichtete, sah sie Kette, der an der gegenüberliegenden Seite der Zelle lag. Er hatte sich den Arm mit der Schusswunde mit seinem Halstuch abgebunden, um die Blutung zu stillen. Jetzt lag er, etwas blass um die Nase, und schien zu schlafen.
Easy taumelte zur Tür. Nach dem Angriff durch die Beamten war sie etwas schwach auf den Beinen. Sie hämmerte gegen die Tür, damit jemand kam, um sich Kettes Wunde anzugucken. Doch niemand kam. Sie sah sich in der Zelle um, um etwas zu finden, womit sie Kette helfen könne. Alles was sie entdeckte, waren eine Kamera mit Mikrophon, die sie beobachtete. Sie stellte sich vor die Kamera und rief, dass Kette Erste Hilfe benötige, dass er verwundet sei und dass sie einen Anwalt sprechen wolle. Als weiterhin sich niemand um sie zu kümmern schien, fing sie zu brüllen und zu toben an.
"Dit sieht ja janz lustich und amüsant aus, aba so langsam jehts mir uffn Nerv, kannste bitte damit uffhören", sagte Kette schwach hinter ihr.
"Aber die müssen uns doch helfen und einen Rechtsbeistand zu lassen. Das sind Bürgerrechte!"
"Aha, und wer hat deina Meinung nach Bürjarechte?"
"Na, alle Bürger."
"Sehr schön, sind wa Bürja diesa Stadt?"
"Ja!"
"Nee!"
"Doch!"
"Nee, sind wa nich."
"Wie kommst du denn auf diese dumme Idee?"
"Janz einfach, wa habn nich den janzen Krimskrams, um zeijen zu können, dit wa Bürja sind."
"Ich habe meine Identifikationskarte."
"Dit iss ja hocherfreulich für dir und wat mach icke?"
"Sie können dich nicht zurück schicken, das wäre unmenschlich."
"Hast du ooch mal die Lauscher uffjesperrt, als da komische Kerl mit dir jeredet hat? Ick bin für die hier oben keen Mensch, ick bin nen Katakombenkrüppel. Ne Art mutierte Ratte, und seit wann hab'n Ratten Menschenrechte?"
"Aber, aber, aber …"
"Nix aber aber aber, laber Rhabarber. Deene Leute haben vor langa Zeit alle, die nich in ihr Weltbild jepasst ham, einfach nach unten abjeschoben. Jenauso wie ihr die Scheiße im Klo runterspült. Een Knopfdruck und die Schüssel is wieda blank. Weeßt du, wat'n Obdachloser ist? Schon mal nen Punk am Bahnhof beim Schnorren jesehen? Streetartkünstler? Straßenmusikanten? Grafitti? Nee?"
Easy schwieg.
"Hab ick mir jedacht. Ach ja, hätt ick fast vajessen. 'Willkomm zu Hause!'"
Die Zellentür wurde geöffnet und ein Mann mit einem kleinen Wagen kam herein. Ging in die Ecke und befestigte einen kleinen Kasten unter der Kamera.
"So, die Kamera und dit Mikro sind erstma andaweitich beschäftigt. Mahlzeit, ihr zwee Hübschen. Na, wat macht dit Leben?", fragte er die beiden.
"Et neigt sich dem Ende zu", antwortete Kette
"Na na na, nu sei mal nicht so pessimistisch, Kleena. Ick hab nen paar feine Spielsachen für euch dabei."
"Oh toll, werden wa glei' hingerichtet?"
"Ach quatsch, ick hab Sanitätsmaterial und wat zum Futtern."
"Klopapier und die Henkersmahlzeit?"
"Nee, was du grad meinst, issn Sanitärartikel. Ick hab hier nen Erste-Hilfe-Paket und wat Leckeres zum in die Fijur schütten. Die Hunde draußen winseln schon aus Angst vorm Knurren eurer Mägen."
"Wer bist'n überhaupt?", fragte Kette.
"Hauptkommissar Alfred Schmidt, Kriminalpolizei."
Kette sprang hoch und wollte auf ihn losgehen. Schmidt schubste den geschwächten Kette locker zurück.
"Janz ruhig, du Spaßvojel. Ick hab ihrn kleen' Veiztanz jesehen, sah janz amüsant aus. Aber die Knallköppe in der Zentrale hats nich sondalich beeindruckt. Aber ick will euch helfen. soweit ick kann."
"Ach ja. Und warum?", fragte Kette und rieb sich die Stelle am Hinterkopf, mit der er gegen die Wand gestoßen war.
"Janz einfach, weil ick nich gloobe, dit ihr die Attentäta seid."
"Was für Attentäter?", fragte Easy.
Hauptkommissar Schmidt begann alles in Kurzform zu erzählen.
Als er fertig war, sagte er: "Ick kann nich glooben, dit Leute, die bei den Morden so profimäßich vorjejangen sind, sich in der Bude von so nem jeistigen Tiefflieger erwischn lassn. Vor allen Dingen sich ooch noch so einfach festnehmen lassen."
"Ey, ick hab vier von euren tollen Keene-Ahnung-wie-dit-heeßt-Kommando umjenietet. So einfach waret nu ooch wieda nich"
"Dreie, meen Kleena. Big Ed hast nur K.O. jeschlagen."
"Aba für den Typ am Türrahmen will ick nen Pluspunkt inna B-Note haben."
"Sach mal, sind wa hier uffm Basar für Eiskunstlauf? B-Note, ick gloob, et hackt. Außadem, meene Kleene, hast du dit Problem, dit die janze Horrorkulisse mit die sojenannten Katakombenkrüppel uff deim Vaschwinden uffjebaut iss. Wenn rauskommt, dit dein Verschwinden uff ner Materialschwäche von da Betonkuppel basiert und nicht durch ne Entführung dieser WKEA-Spinner, dann iss Essig mit die Plänen deines Papileins. Deswegen gloob ick, dassa dir eha vaschwinden lassen will, als dassa seine Pläne uffjibt. Und du, Keule, bist für seine Pläne einfach nur die geilste aller Wichsvorlajen. Ick gloob, wenna Zeit hat, wird er sich dadruff richtich eenen runterholen"
"Wie? Ick bin die Wichsvorlage von deim Chef?"
"Nur im übertrajene Sinne. Obwohl sojenau will ick da jar nich drüber nachdenken."
"Ick stell mir dit schon ziemlich eklig vor. Also bei Easy hätt ick nich dit jeringste Problem bei. Aber bei ihrem alten Herrn, nee dit iss, Bähhhh."
Hauptkommissar Schmidt drehte sich zu Easy um und guckte sie an. Sie verdrehte entnervt die Augen.
"Nimmet als Kompliment, Mädel. Dit iss zwar ziemlich absonderlich, aber ick schätze, dassa da unten nich all zuviel Zeit zum Süßholzraspeln hat."
"Ich habe nichts gegen Komplimente, nur seine sind mir irgendwie zu direkt und zu platt."
"Sind die von de Flitzpiepen hier oben etwa bessa oder tiefgründiga?"
"Nein, aber ich mag die platten und alten Sprüche nicht."
"Wat erwartest du von nem Kerl? Dassa dir Shakespeare zitiert als Anmachspruch?"
"Warte warte, dit kann ick, dit kann ick", mischt Kette sich aufgeregt ein.
"Herr, steh uns bei, was kommt jetzt?", frage Easy genervt.
Kette stand so gut er konnte auf und begann mit leiser, angenehmer und sanfter Stimme zu sprechen:
"Der Narben ladet, wer Wunden nie gefühlt. Doch still, was schimmert durch das Fenster dort? Es ist der Ost und Julia die Sonne! - Geh auf, du holde Sonn’! Ertöte Lunen, die neidisch ist und schon vor Grame bleich, dass du viel schöner bist, obwohl ihr dienend. Oh, da sie neidisch ist, so dien ihr nicht. Nur Toren gehn in ihrer blassen, kranken Vestalentracht einher: Wirf du sie ab! Sie ist es, meine Göttin! meine Liebe! O wüsste sie, dass sie es ist! Sie spricht, doch sagt sie nichts: Was schadet das? Ihr Auge red't, ich will ihm Antwort geben. - Ich bin zu kühn, es redet nicht zu mir. Ein Paar der schönsten Stern’ am ganzen Himmel wird ausgesandt, und bittet Juliens Augen, in ihren Kreisen unterdes zu funkeln. Doch wären ihre Augen dort, die Sterne in ihrem Antlitz? Würde nicht der Glanz von ihren Wangen jene so beschämen wie Sonnenlicht die Lampe? Würd’ ihr Aug’ aus luft'gen Höhn sich nicht so hell ergießen, daß Vögel sängen, froh den Tag zu grüßen? O wie sie auf die Hand die Wange lehn."
Easy saß mit offenem Mund da und starrte verblüfft Kette an.
"Romeo und Julia, zweete Szene, zweeter Uffzuch. Dit dürfte an Tiefgründigkeit für den nächsten Monat reichen, schätz ick", kommentiert Hauptkommissar Schmidt das Shakespeare-Zitat.
"So, und dit nächste Mal bitte mit Vor- und Abspann und allen Rollen – gleichzeitig."
Er klatschte Applaus. „Mädel, mach den Mund zu, sonst werdn de Milchzähne sauer. Kümmere dich mal lieber um seine Schusswunde, sonst fällt dem noch der Arm ab. Ach ja, janz unten im Wagen hab ick noch nen paar frische Klamotten für euch hinjelecht. Ick wünsch euch beeden allet jute."
Er ging zur Tür, klopft dreimal und wurde raus gelassen. Easy schnitt mit einer Schere Kette den Ärmel seines Oberteils auf, um besser an die Wunde zu kommen.
"Ey, mach meen Niki nicht kaputt."
"Ach komm, jetzt meckere nicht wegen dem alten Teil. Das ist gerade so ein umgenähter Scheuerlappen."
"Mag sein, aba dit iss meen umjenähter Scheuerlappen."
"Nun ist es sowieso zu spät. Außerdem kann man das auch wieder nähen."
Sie legte die Wunde frei und spülte sie mit etwas Wasser aus.
"Jetzt kommt der unanjenehme Teil", sagte Kette.
Er schaute sich um.
"Wonach guckst du?", fragte Easy.
"Wat zum Druffbeißen"
Kette sah auf dem untersten Blech des Wagens, den der Hauptkommissar mitgebracht hatte, seine Lederkutte liegen.
"Jib mir die ma bitte."
Easy tat, worum er sie gebeten hatte. Er nahm die Jacke, legte sich auf die Steinbank, auf der er bis eben gesessen hatte, nahm einen Ärmel in den Mund und wartete, dass Easy mit der Behandlung fortfuhr. Als sie den inneren Bereich säuberte, spannte er den Arm an und biss in den Ärmel. Er zappelte nicht. Als sie fertig war, verband sie die Wunde und Kette entspannte sich. Er richtet sich auf und Easy versorgte die Schnittwunden an den Ohren. Kette schaute skeptisch auf den Wagen auf dem Essen stand.
"Wat issn dit fürn Zeuch?", fragte er mit skeptischen Blick.
"Essen, das noch nicht gegessen wurde", antwortete Easy.
Sie griff sich eine der beiden Schüsseln mit Haferschleim.
Nach dem Essen sagte Kette: "So, wo is'n Bohm? Ick wünsche ihn herauszureißen."
"Weißt du überhaupt, wie ein Baum aussieht?"
"Weest du, wie ne Patrone vom Kaliba 5,56 mm NATO aussieht?"
"Nein."
"Siehste, uff beede Frage trifft die selbe Antwort zu."
"Aber wie willst du einen Baum ausreißen, wenn du nicht mal weißt, wie einer aussieht?"
"Dit iss doch nur son Sprichwort."
Easy schwieg.
"Sach ma, jefällt dir da Fetzen vonne Schutztruppen, oda warum willste den nich ma ausziehn und in wat frisches schlüpfen?"
"Du willst mich doch nur nackt sehn."
"Hmm, wär ooch ne Schande, bei sowat reizendem weg zu kieken. Aber wennde willst, kann ick mir ooch wegdreh'n, mir die Oogen zuhalten und laut 'A las barricadas' singen."
"Ja bitte, aber bitte ohne Singen. Eine Krähe ist kein Singvogel."
"Krah, krah", macht Kette, hockte sich wie ein ein Vogel auf die Bank, drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und hielt sich die Augen zu.
"Und nicht schmuhlen", sagte Easy.
Er saß da mit gespitzten Ohren und malte sich in Gedanken aus, was sich hinter seinem Rücken abspielte. Easy zog sich die Uniform aus und betrachtet die Reste ihres alten Lieblingskleides. Die Ärmel hingen in Streifen die Arme runter, der Teil, der die Beine bedeckte, war seitlich vom Saum bis zur Taille gerissen, so dass sie zwar mehr Beinfreiheit hatte, man jedoch, wenn der Stoff ungünstig rutschte, ihr direkt auf den Hintern gucken konnte. Auf ihrem Bauch hatte sie einen langen Riss, der dafür sorgte, dass sie unter der Uniform bauchfrei war.
Sie warf die Uniform in die Ecke und entledigte sich ihres Kleids, indem sie die Teile, die es noch zusammen hielten, einfach zerriss und zu der Uniform in die Ecke warf. Sie griff sich den Overall, der gefaltet unten in dem Wägelchen lag. Sie zog ihn an und schloss vorsichtig den Reißverschluss. Danach zog sie die bereitgestellten Stiefel an und legte den Gürtel um.
Als sie fertig war, sagte sie: "Ok, du kannst wieder gucken"
Kette dreht sich um. Als Easy ihn sah, erschrak sie. Kettes Gesicht war knallrot und der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
"Kette, ist alles ok mit dir?"
"Ja ja, allet ok. Mir jeht's bestens."
"Aber du bist knallrot im Gesicht und du schwitzt wie verrückt."
"Nee nee nee, allet jut, mir jehts prima."
Easy schaute ihn besorgt an. Kette stand auf, nahm seine Kutte aus, faltete sie und legte sie auf den Boden. Easy beobachtet gespannt das Geschehen und fragte sich, was er denn jetzt wieder für Mätzchen machen würde. Kette setzte sich daneben und legte sich hin, wobei er seine Kutte als Kopfkissen benutzte.
"Nein", sagte Easy.
"Hä? Wat?"
"Komm hoch!", sagte sie.
"Ick will aba schlafen", nörgelt Kette.
"Deswegen sollst du ja hochkommen."
"Willste etwa, das ick im Stehen schlafe?"
"Nein, du sollst zu mir auf die Bank kommen."
"Da iss aber keen Platz für Zwehe."
"Das lass mal meine Sorge sein."
Sie stand auf und holte ihr kaputtes Kleid. Als sie zurück war, knüllte sie es zusammen so dass es als Kissen dienen konnte. Kette saß auf der Bank wie bestellt und nicht abgeholt.
"Leg dich hin!", befahl sie.
Kette legte sich wie befohlen hin. Sie deckte ihn zu. Danach legte sie sich mit dem Rücken zu ihm auf die Bank. Kurz darauf drehte sie sie zu ihm, so dass sie sich in die Augen sahen.
Kette murmelte im Halbschlaf: "Wat warn dit jezze für Manöver?"
"Wenn wir schon so dicht nebeneinander liegen, dann will ich dich lieber sehen, als dich im Nacken zu haben."
"Ick habs dir schon mal jesacht, dass ick dir nicht anfassen werde, wenn du dit nich willst."
"Ja, ich weiß. Ich wollte mich auch bedanken, dass du mich gerettet hast."
"Keene Ursache."
"Doch, für mich schon. Außerdem bist du gar nicht so ein großes Arschloch, wie ich anfänglich gedacht hatte."
"Lass mir raten, ick bin in Wahrheit noch'n viel größeret?"
"Nein, eben nicht. Im Gegenteil, du bist streckenweise ein ganz schöner Vollidiot. Aber wenn es hart auf hart kommt, glaube ich, kann man sich voll und ganz auf dich verlassen."
Sie schwiegen.
Kurz darauf darauf fragte sie: "Hast du vorhin so geschwitzt und bist rot geworden, weil ich mich hinter deinem Rücken umgezogen habe?"
Während sie das fragte, strich sie mit ihrer Hand Kettes Arm aufwärts. Als sie aus Versehen seine Wunde streifte, zuckte er kurz zusammen. Als sie an seiner Wange angekommen war, hielt sie inne und streichelte sein Gesicht. Kette guckte sie immer noch regungslos an.
"Ja", antwortete er dann leise.
Kurz darauf erhob sie sich ein wenig und näherte sich Kettes Gesicht. Mit leicht geöffneten Lippen näherte sie sich den seinen. Kette legte ihr seine Hand auf ihre Schulter und näherte sich ihr. Ihre Lippen berührten sich. Es erschien Easy, als würde die ganze Zelle unter dem Kuss erbeben und erzittern.